THE OTHER REPORT ON CHERNOBYL (TORCH)

AN INDEPENDENT SCIENTIFIC EVALUATION OF HEALTH AND ENVIRONMENTAL EFFECTS 20 YEARS
AFTER THE NUCLEAR DISASTER PROVIDING CRITICAL ANALYSIS OF A RECENT REPORT BY THE
INTERNATIONAL ATOMIC ENERGY AGENCY (IAEA) AND THE WORLD HEALTH ORGANISATION (WHO)


AUTHORS_ Ian Fairlie, PhD, UK. David Sumner, DPhil, UK
AFTERWORD_ Prof. Angelina Nyagu, Ukraine

 
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ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN

Am 26. April 2006 ist es zwanzig Jahre her, dass das Kernkraftwerk von Tschernobyl explodierte und sich daraufhin große Mengen radioaktiver Gase und Teilchen über die Nordhalbkugel ausbreiteten. Die Auswirkungen des Unglücks sind vor allem in Weißrussland, der Ukraine und Russland weiterhin deutlich spürbar, wo Millionen von Menschen betroffen sind, jedoch wurden durch den radioaktiven Niederschlag von Tschernobyl auch andere Regionen der Erde stark kontaminiert. Die Folge der Katastrophe war, neben einer beispiellosen Freisetzung von Radioaktivität, eine Reihe unerwarteter, ernsthafter Konsequenzen für Mensch und Umwelt.

Der TORCH-Bericht stellt eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung verfügbarer Daten über die Freisetzung von Radioaktivität in der Umwelt und damit verbundene Gesundheitsrisiken in Folge des Unglücks von Tschernobyl dar. Zu diesem Thema existieren bereits tausende Studien, welche jedoch zu einem Großteil nur in ukrainischer oder russischer Sprache verfügbar sind. Diese Einschränkungen erschweren ein tiefer greifendes internationales Verständnis der Auswirkungen von Tschernobyl. Die Autoren verweisen auf dieses Problem und auch auf die Notwendigkeit, sich damit von offizieller Seite aus zu befassen. Zudem ist erkennbar, dass einige der Autoren aus Weißrussland, Russland und der Ukraine „offiziellen“ Versionen zu den Auswirkungen des Unglücks von Tschernobyl sehr kritisch gegenüberstehen.

Der TORCH- Bericht unterzieht verschiedene offizielle Studien einer kritischen Analyse, besonders zwei Berichte des „UN-Tschernobyl-Forums“, die im September 20051 von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgestellt wurden und in den internationalen Medien beachtliche Aufmerksamkeit erlangten.

Die Risikoeinschätzungen bei der Strahlenbelastung sind von vielen Unbestimmtheiten gekennzeichnet. Besonders die Auswirkungen von sehr geringen Dosen sind noch ungewiss. In der aktuellen Theorie wird angenommen, dass das Verhältnis zwischen Dosis und Schadenswirkung ohne einen Schwellenwert zur Null-Dosis linear ist. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass es keinen Grenzwert gibt, unter welchem Strahlenbelastung sicher sei. Dabei ist es gleichgültig, ob das Risiko bei geringen Dosen supralinear, also zu relativ höherem Risiko, oder sublinear und damit relativ geringen Risiko führt.

Eine weitere Hauptquelle für die Ungewissheiten liegt in den Abschätzungen interner Strahlendosen, also von Nukliden, die eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen wurden. Gerade diese sind eine wesentliche Strahlungsquelle aus dem radioaktiven Niederschlag von Tschernobyl. Die Unbestimmtheiten in Bezug auf die Risiken durch interne Bestrahlung können sehr groß sein und bei bestimmten Radionukliden um einen Faktor 2 (auf- und abwärts von der zentralen Schätzung) im günstigsten Fall und bis zu 10 oder mehr im ungünstigsten Fall variieren.

Der Unfall

Am Morgen des 26. April 1986 ereigneten sich zwei Explosionen in Block 4 von Tschernobyl, die den Reaktor komplett zerstörten. Die Explosionen trieben große Wolken aus radioaktiven Gasen und Schutt 7 bis 9 Kilometer hoch in die Atmosphäre. Etwa 30 % der 190 Tonnen Kernbrennstoff des Reaktors wurden über das Reaktorgebäude und angrenzende Gebiete verteilt sowie ca. 1-2 % in die Atmosphäre geschleudert. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Reaktorinhalt an radioaktiven Gasen freigesetzt. Der nachfolgende Brand wurde von 1.700 Tonnen Graphit genährt und dauerte acht Tage an. Dieser Brand war der Hauptgrund für das extreme Ausmaß der Katastrophe von Tschernobyl.

Wie viel Radioaktivität wurde freigesetzt?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass die Radioaktivität von Tschernobyl insgesamt 200 Mal höher war, als die freigesetzte Radioaktivität der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zusammengenommen. Der Umfang von freigesetzter Radioaktivität während eines radiologischen Ereignisses wird als „Quellterm“ bezeichnet. Dies ist wichtig, da auf diese Weise Nuklidablagerungen auf der Nordhalbkugel überprüft werden. Auf ihrer Basis können Kollektivdosen sowie die erwartete Anzahl zusätzlicher Erkrankungen und Todesopfer abgeschätzt werden.

Die Spaltprodukte Iod-131, Cäsium-134 und Cäsium-137 besitzen im Cocktail der freigesetzten Nuklide die größte radiologische Bedeutung. Iod-131 mit seiner kurzen Halbwertzeit von acht Tagen hatte durch seine Dosen auf die Schilddrüsen enorme kurzfristige radiologische Auswirkungen. Cäsium-134 (Halbwertzeit 2 Jahre) und Cäsium-137 (Halbwertzeit 30 Jahre) haben mittel- und langfristig die größeren radiologischen Auswirkungen. Es existieren heute nur noch relativ geringe Mengen an Cäsium-134, jedoch trug es in den ersten zwei Jahrzehnten nach 1986 erheblich zu den Strahlendosen bei.

Die meisten übrigen Radionuklide sind inzwischen zerfallen. In den nächsten Jahrzehnten wird neben Cäsium-137 auch Strontium-90 wichtig bleiben, das vor allem die näheren Gebiete um Tschernobyl betrifft. Langfristig (über Jahrhunderte und Jahrtausende) werden Aktivierungsprodukte wie Isotope von Plutonium, Neptunium und Curium bedeutsam sein. Die Gesamtdosen dieser Aktivierungsprodukte werden jedoch im Vergleich zu den Dosen von Cäsium-137 vermutlich gering bleiben.

Die Autoren haben die Anteile der ursprünglich im Reaktor befindlichen Mengen von Cäsium-137 und Iod-131, die an die Umwelt abgegeben wurden, neu geschätzt. Nach ihrer Schätzung wurden:

30 % mehr Cäsium-137 freigesetzt als offiziell angenommen;
15 % mehr Iod-131 freigesetzt als offiziell angenommen.

Verteilung und Ablagerung des Tschernobyl Fallouts

Während eines Zeitraums von zehn Tagen, in dem in Tschernobyl Maximalmengen freigesetzt wurden, gelangten flüchtige Radionuklide permanent ins Freie und verteilten sich zunächst über viele Teile Europas und schließlich über die gesamte nördliche Halbkugel. Relativ hohe Konzentrationen des radioaktiven Niederschlags wurden beispielsweise im japanischen Hiroshima, über 8.000 km von Tschernobyl entfernt, gemessen.

Durch Regen wurde der radioaktive Niederschlag über Europa und der Nordhalbkugel relativ gleichmäßig verteilt. Der Großteil des freigesetzten Brennstoffs ging mit großen Dichteschwankungen in den Gebieten nahe des Reaktors nieder, wobei jedoch heiße Brennstoffteilchen auch tausende Kilometer weit transportiert wurden.

Unter der Schirmherrschaft der Europäischen Union wurden in den 90er Jahren weit reichende Untersuchungen zur Kontamination durch Cäsium-137 von Tschernobyl durchgeführt. Die stärksten Konzentrationen an flüchtigen Nukliden und Brennstoffpartikeln entstanden in Weißrussland, Russland und der Ukraine. Aber mehr als die Hälfte der Gesamtmenge der flüchtigen Bestandteile und heißen Partikel aus Tschernobyl wurde außerhalb dieser Länder abgelagert.

Über Russland, Weißrussland und der Ukraine der größte Teil des radioaktiven Cäsium-137 nieder; Jugoslawien, Finnland, Schweden, Bulgarien, Norwegen, Rumänien, Deutschland, Österreich und Polen erhielten jeweils mehr als ein Petabecquerel (1015 Bq oder eine Million Milliarden Becquerel) an Cäsium-137, eine enorme Menge an Radioaktivität.3

Etwa 3.900.000 km2 von Europa wurde durch Cäsium-137 kontaminiert, was 40 % der Gesamtfläche Europas entspricht. Interessanterweise scheint dieser letzte Wert nirgends veröffentlicht worden zu sein und ist mit Sicherheit nie in das Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit gelangt.

Von der betroffenen Gesamtfläche wurden 218.000 km2 bzw. etwa 2,3 % der Gesamtfläche Europas stärker kontaminiert (mehr als 40.000 Bq/m2 Cs-1374). Diese Fläche wurde von der IAEA/WHO und UNSCEAR genannt, was verdeutlicht, dass sie bei ihrer Berichterstattung sehr selektiv vorgegangen sind.

Gemessen an der Flächengröße waren Weißrussland (22% seiner Landmasse) und Österreich (13%) am stärksten durch höhere Werte belastet. Jedoch wurden noch weitere Länder ernsthaft betroffen, beispielsweise waren über 5 % von Ukraine, Finnland und Schweden hochgradig kontaminiert (> 40.000 Bq/m2 Cäsium-137). Mehr als 80 % von Moldau, dem europäischen Teil der Türkei, Slowenien, der Schweiz, Österreich und der Slowakei waren zu geringeren Graden belastet (> 4.000 Bq/m2 Cäsium-137). 44 % von Deutschland und 34 % von Großbritannien waren in ähnlicher Weise betroffen.

Die IAEO/WHO Berichte erwähnen diese ausführlichen Datensätze der Europäischen Kommission über die Kontaminationen in Europa nicht. Diese Auslassung wird nicht erklärt. Darüber hinaus setzen sich die IAEO/WHO Berichte weder mit den Niederschlägen noch den Strahlendosen in Ländern außerhalb von Belarus, Ukraine und Russland auseinander. Da starker Fallout von Tschernobyl zweifellos im Rest Europas zu verzeichnen war, ist das Auslassen dieser Analyse fragwürdig.

Einschränkungen für Lebensmittel sind weiterhin in Kraft

In vielen Ländern gelten weiterhin Einschränkungen bei Produktion, Transport und Verzehr von Lebensmitteln, die immer noch durch den radioaktiven Niederschlag von Tschernobyl belastet sind.

• In Großbritannien bleiben die Einschränkungen für 374 Bauernhöfe mit insgesamt 750 km2 (75.000 ha) Fläche und 200.000 Schafen bestehen.

• In Teilen von Schweden und Finnland sind Viehherden, einschließlich Rentiere, unter natürlichen und naturnahen Bedingungen betroffen.

• In einigen Regionen von Deutschland, Österreich, Italien, Schweden, Finnland, Litauen und Polen wird bei Wild (darunter Wildschweine und Rehwild), Waldpilzen, Beeren und Raubfischen aus Seen ein Wert von mehreren tausend Bq Cäsium-137 pro kg erreicht.

• In Deutschland erreichten die Cäsium-137-Werte im Muskelfleisch von Wildschweinen 40.000 Bq/kg. Der Durchschnittswert beträgt 6.800 Bq/kg, mehr als das Zehnfache des EU-Grenzwerts von 600 Bq/kg.

Die Europäische Kommission erwartet kurzfristig keine Veränderung und erklärte auf Anfrage:
„Die Beschränkungen für bestimmte Lebensmittel aus einigen Mitgliedstaaten müssen daher noch über viele Jahre hinweg aufrechterhalten werden.“ (Schwerpunkte hinzugefügt)

Die gesundheitlichen Auswirkungen – bisher…

Die unmittelbaren Auswirkungen des Unfalls von Tschernobyl bestanden in der akuten Strahlenkrankheit bei 237 Notfall-Einsatzkräften, von denen 28 im Jahr 1986 starben und 19 zwischen 1987 und 2004. Die langfristigen Folgen des Unglücks bleiben unbestimmt. Die Belastung durch ionisierende Strahlung kann in fast jedem Organ des Körpers Krebs auslösen. Die Zeitspanne zwischen der Aufnahme der Strahlung und dem Ausbruch von Krebs kann jedoch 50 bis 60 Jahre oder noch länger betragen. Die Gesamtzahl der an Krebs gestorbenen Opfer von Tschernobyl wird nie genau zu bestimmen sein. Der TORCH-Bericht erstellt dennoch Prognosen zu den zu erwartenden Krebsfällen auf der Basis veröffentlichter Statistiken zu den Kollektivdosen bei betroffenen Bevölkerungsteilen.

Schilddrüsenkrebs

Bis 2005 sind in Weißrussland, der Ukraine und Russland etwa 4.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Menschen bekannt geworden, die zum Zeitpunkt des Unfalls jünger als 18 Jahre waren. Je jünger die der Strahlung ausgesetzte Person war, desto größer ist das Folgerisiko einer Erkrankung an Schilddrüsenkrebs.

Schilddrüsenkrebs wird bei Bestrahlung durch das radioaktive Jod ausgelöst. Man geht davon aus, dass mehr als die Hälfte des Iod-131 von Tschernobyl außerhalb der ehemaligen Sowjetunion abgelagert wurde. In der Tschechischen Republik und in Großbritannien wird über eine mögliche Zunahme der Fälle von Schilddrüsenkrebs berichtet. Zur Bewertung des Auftretens von Schilddrüsenkrebs in Westeuropa bedarf es jedoch noch weiterer Forschung.

Abhängig vom angewendeten Risikomodell variieren die Schätzungen zu künftigen zusätzlichen Fällen von Schilddrüsenkrebs allein für Weißrussland zwischen 18.000 und 66.000. Natürlich ist auch in der Ukraine und in Weißrussland mit dem Auftreten von Schilddrüsenkrebs zu rechnen. Bei der niedrigeren Schätzung erwartet man ein konstantes relatives Risiko für 40 Jahre nach der Strahlungsaufnahme; die höhere Schätzung geht von einem konstanten relativen Risiko über die gesamte Lebenszeit aus. Neue Erkenntnisse über die Überlebenden der Atombomben in Japan lassen erkennen, dass die zweite Schätzung realistischer sein dürfte.

Leukämie

Der Nachweis von erhöhtem Auftreten von Leukämieerkrankungen ist weniger deutlich. Bei russischen Aufräumarbeitern und Bewohnern stark kontaminierter Gegenden in der Ukraine wurde eine Häufung von Leukämiefällen beobachtet. Einige Studien deuten auf ein erhöhtes Auftreten von Leukämie durch radioaktiven Niederschlag von Tschernobyl bei Kindern in Westdeutschland, Griechenland und Weißrussland hin.

Sonstige Krebsarten

Bei den meisten Krebsarten liegt ein Zeitraum von 20 bis 60 Jahren zwischen der Strahlungsaufnahme und dem Ausbruch der Krankheit. Jetzt, 20 Jahre nach dem Unfall, wurde in Weißrussland mit dem stärksten Anstieg in den am schwersten belasteten Regionen bereits eine Zunahme bei Krebsarten um durchschnittlich 40 % beobachtet. Die Berichte der IAEA/WHO von 2005 räumen den vorläufigen Nachweis einer Zunahme von prämenopausalem Brustkrebs bei Frauen ein, die im Alter von unter 45 Jahren der Strahlung ausgesetzt waren.

Weitere Auswirkungen außer Krebs

Zwei nicht krebsbedingte Folgen, Grauer Star und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sind durch deutlichen Nachweis eines Zusammenhangs mit Tschernobyl gut dokumentiert. Bei Kindern und jungen Menschen zwischen 5 und 17 Jahren, die in der Nähe von Tschernobyl leben, wurden Veränderungen der Augenlinsen in Verbindung mit der Strahlung festgestellt. Eine große Studie über die Notfall-Einsatzkräfte von Tschernobyl belegte ein deutlich höheres Erkrankungsrisiko des Herz-Kreislauf-Systems.

Vererbbare Folgen

Bekannt ist, dass Strahlung die Gene und Chromosomen schädigen kann. Ungeachtet des Zusammenhangs von genetischen Veränderungen und der künftigen Entwicklung sind derartige Erkrankungen komplex und die Relevanz solcher Schädigungen für zukünftige Risiken oft ungeklärt. Andererseits haben aber mehrere aktuelle Studien die genetischen Schäden bei Menschen untersucht, die der Strahlung durch den Unfall von Tschernobyl ausgesetzt waren.
Studien in Weißrussland erwiesen bei der Mutation der Minisatelliten in den Keimbahnen einen Anstieg um das Zweifache. Die Analyse einer Gruppe von Familien aus der Ukraine, die der Strahlung ausgesetzt waren, bestätigte diese Ergebnisse. Die aus solchen Veränderungen resultierenden klinischen Symptome sind jedoch weiterhin unklar.

Geistige Gesundheit und psychosoziale Auswirkungen

Der aktuelle IAEA/WHO-Bericht scheint zwar andere Auswirkungen eher herunterzuspielen, benennt aber deutlich die weit reichenden geistigen und psychologischen Folgen sowie die Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem nach der Katastrophe von Tschernobyl: „Der Einfluss von Tschernobyl auf die geistige Gesundheit ist bis heute das größte Problem der öffentlichen Gesundheit als Folge des Unglücks. Das Ausmaß des Unglücks, die Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppen und die langfristigen Folgen machen dies mit Abstand zur größten industriellen Katastrophe aller Zeiten.“
Die Ursprünge dieser psychosozialen Effekte sind komplex und durch mehrere Faktoren begründet, so z.B. Angst vor möglichen Folgen der Strahlung, Veränderungen des Lebenswandels (Ernährung, Alkohol, Tabak), Drängen in eine Opferrolle, die zu einem Gefühl sozialer Ausgrenzung führt, und auch Stress in Zusammenhang mit Evakuierung und Umsiedlung. Daher kann nur schwer eingeschätzt werden, welche der Symptome direkt mit der Strahlenbelastung durch Tschernobyl verbunden sind.

Kollektivdosen

Eine Strahlenbelastung wird meist auf zwei Arten ermittelt: Individualdosen und Kollektivdosen. Individualdosen werden pro Person gemessen oder berechnet, während Kollektivdosen die Summe der Individualdosen aller einer Strahlung ausgesetzten Personen innerhalb eines bestimmten Bereichs – beispielsweise eine Belegschaft, ein Land, eine Region oder auch die ganze Welt – bilden. Die Schätzung der Kollektivdosis ist besonders dann relevant, wenn große Bevölkerungsgruppen über lange Zeiträume relativ geringen individuellen Strahlendosen ausgesetzt sind. Die Ermittlung der Kollektivdosis ist unerlässlich beim Einschätzen potenzieller künftiger Auswirkungen von Strahlung auf die Gesundheit.

Der Zeitraum, für den eine Kollektivdosis zu ermitteln ist, muss klar abgegrenzt sein. Die der Strahlung ausgesetzten Bevölkerungsteile Weißrusslands, der Ukraine und Russlands beispielsweise erhielten im ersten Jahr nach Tschernobyl etwa ein Drittel einer 70-jährigen Kollektivdosis. Ein geschätztes weiteres Drittel wurde in den folgenden neun Jahren aufgenommen (d.h. 1987 bis 1996), das restliche Drittel folgt etwa in den Jahren zwischen 1997 und 2056.

In den IAEA/WHO-Berichten wird die Kollektivdosis für Weißrussland, die Ukraine und Russland auf mindestens 55.000 Personen-Sievert und maximal auf über 300.000 Personen-Sievert geschätzt. Die IAEA/WHO beschränkt ihre Schätzzeit auf 2006 und liefert keine Schätzungen für die Kollektivdosen in Europa oder weltweit – dies sind deutliche Einschränkungen.

Die glaubwürdigste veröffentlichte Schätzung der gesamten Kollektivdosis aus dem radioaktiven Niederschlag von Tschernobyl weltweit nennt 600.000 Personen-Sievert, was Tschernobyl mit Abstand zum schwersten nuklearen Unfall macht. Von dieser gesamten Kollektivdosis entfallen etwa:

36 % auf die Bevölkerung von Weißrussland, Ukraine und Russland;
53 % auf die Bevölkerung im übrigen Europa;
11 % auf die übrige Weltbevölkerung.7

Schätzung zu erwartender Häufung tödlicher Krebsfälle

Die zu erwartende Erhöhung krebsbedingter Todesfälle kann anhand veröffentlichter Kollektivdosen geschätzt werden. Diese Zahlen besagen für Weißrussland, die Ukraine und Russland zwischen 4.000 und 22.000 sowie für die Welt zwischen 14.000 und 30.000 Fälle. Diese Schätzwerte hängen stark vom eingesetzten Risikofaktor ab, denn verschiedene Wissenschaftler gehen von unterschiedlichen Faktoren aus. Neue Studien deuten darauf hin, dass derzeit angenommene Risiken aus geringen Dosen möglicherweise höher angesetzt werden müssen.

In einer Pressemitteilung vom 5. September 2005 teilte die IAEA unter der Überschrift „Tschernobyl: Das wahre Ausmaß des Unfalls“, mit, dass insgesamt „bis zu viertausend“ Menschen auf Grund der Strahlungsbelastung aus Tschernobyl sterben könnten. Diese Zahl von 4.000 Sterbefällen wurde weltweit in den Medien häufig zitiert. Die Aussage ist aber irreführend, da selbst der IAEA/WHO Bericht von knapp 9.000 Krebstodesfällen ausgeht.

Abhängig vom angesetzten Risikofaktor (d.h. das Krebstodrisiko pro Personen-Sievert) schätzt der TORCH-Bericht ein, dass die weltweite Kollektivdosis von 600.000 Personen-Sievert zu 30.000 bis 60.000 zusätzlichen Krebstodesfällen führen wird. Das ist 7,5 bis 15 Mal mehr als die Zahl aus der Presseerklärung der IAEA.

Schlussfolgerungen

Die gesamten Folgen des Unfalls von Tschernobyl wird man niemals feststellen können. Jedoch ist 20 Jahre nach der Katastrophe klar, dass sie weitaus gravierender sind, als offizielle Schätzungen vorgeben. Unsere hauptsächliche Schlussfolgerung besteht darin, dass das einzigartige Ausmaß der Katastrophe sowie deren langfristige Folgen für Umwelt und Gesundheit sowie der sozioökonomische Aspekt von den Regierungen bei der Gestaltung ihrer Energiepolitik umfassend anerkannt und berücksichtigt werden müssen.

Zusammenfassend ist aus dem Bericht Folgendes zu schlussfolgern:

es ist mit etwa 30.000 bis 60.000 zusätzlichen Todesfällen durch Krebs zu rechnen – 7 bis 15 Mal mehr als die Zahl von 4.000 in der Presseerklärung der IAEO
die Schätzungen zu den übermäßig hohen Sterbezahlen hängen stark vom angesetzten Risikofaktor ab
die geschätzten zusätzlichen Fälle von Schilddrüsenkrebs belaufen sich je nach Risikomodell auf 18.000 bis 66.000
weitere Krebsarten mit langen Latenzzeiten beginnen 20 Jahre nach dem Unfall in Erscheinung zu treten
Weißrussland, die Ukraine und Russland wurden stark kontaminiert, mehr als die Hälfte des nuklearen Niederschlags von Tschernobyl ging jedoch außerhalb dieser Länder nieder
der radioaktive Niederschlag von Tschernobyl kontaminierte ca. 40 % der Fläche Europas
die glaubwürdigste Schätzung der Kollektivdosis beträgt etwa 600.000 Personen-Sievert, mehr als das Zehnfache der Schätzungen von 55,000 Personen-Sievert aus dem IAEA/WHO Bericht
etwa 2/3 der Kollektivdosis von Tschernobyl verteilen sich auf die Bevölkerung außerhalb von Weißrussland, der Ukraine und Russland, insbesondere auf Westeuropa
die Werte des durch Tschernobyl freigesetzten Cs-137 sind schätzungsweise etwa ein Drittel höher als offiziell geschätzt

Neue Studien der IAEA/WHO

Unsere Einschätzung der beiden aktuellen IAEA/WHO-Studien zu den Folgen von Tschernobyl für Gesundheit bzw. Umwelt ist gemischt. Wir erkennen einerseits an, dass die Berichte umfassende Untersuchungen zu den Auswirkungen von Tschernobyl in Weisrussland, der Ukraine und Russland beinhalten. Diese Berichte verschweigen jedoch andererseits die Folgen von Tschernobyl außerhalb dieser Länder. Auch wenn Teile Weißrusslands, der Ukraine und Russlands stark kontaminiert waren, hat sich der größere Teil des nuklearen Niederschlags von Tschernobyl außerhalb dieser Länder abgelagert. Die Kollektivdosis des radioaktiven Niederschlags von Tschernobyl ist in der übrigen Welt und besonders bei der Bevölkerung in Westeuropa zweimal so hoch wie in Weißrussland, der Ukraine und Russland. Das bedeutet, dass diese Bevölkerungsgruppen zweimal mehr zusätzliche Todesfälle durch Krebs zu erwarten haben als die Bevölkerung in Weißrussland, der Ukraine und Russland.

Dass die Folgen von Tschernobyl in den anderen Ländern nicht untersucht wurden, liegt nicht an den Wissenschaftlergruppen, sondern an den Gremien und Entscheidungsträgern von IAEA und WHO. Zur Behebung dieser Unterlassung empfehlen wir, dass die WHO unabhängig von der IAEA einen Bericht über den radioaktiven Niederschlag, die Kollektivdosen und die Auswirkungen von Tschernobyl in der übrigen Welt und insbesondere in Westeuropa in Auftrag gibt.

 

 

 

 

Berlin, Brüssel, London, Kiew 06.04.2006

COMMISSIONED BY_
Rebecca Harms, MEP, Greens/EFA in the European Parliament
WITH THE SUPPORT OF_ The Altner Combecher Foundation